Zwischen Wien und Rom: Auf der Spur der österreichisch-italienischen Kooperation auf dem Gebiet des Films in den 1930er Jahren

8. Letzte Projekte

Anlässlich der Reise Pilzers nach Italien hatte Lanske auch den Leiter der Direzione Generale nach Wien eingeladen; die Reise war für den Herbst angesetzt worden: „Ich danke Ihnen für die freundliche Einladung, und ich hoffe wirklich, diesen Herbst nach Wien kommen zu können“, heißt es in Freddis Antwort.181 Der Besuch aber findet nicht statt, und Freddis Verzicht auf die Reise nach Wien mag für die plötzliche Stockung kennzeichnend sein, die Ende 1936 die österreichisch-ita­lienische Kooperation erfährt, nach dem lebhaften Crescendo, das sie zwischen 1934 und 1936 verzeichnet. Nach Blumen aus Nizza kennt die Zusammenarbeit eine längere Stagnation: Von den vielen Vorhaben, die ins Auge gefasst worden waren, kommt keines zustande. Für die neue Lage mag es verschiedene Gründe geben, die in unterschiedlichem Maß zu einer Krise der österreichisch-italie­nischen Kooperation auf dem Gebiet des Films führen, die Ende 1936 unverkennbar an Schwung verliert.

Ein Grund mag im plötzlichen Ausfall der wichtigsten Partner gefunden werden, über die der italienische Film in Wien verfügt: die Produktionsfirmen Panta- und Horus-Film und die Tobis-Sascha. Es handelt sich um die Gesellschaften, die zwischen 1935 und 1936 gemeinsam mit der Gloria-Film im Mittelpunkt der österreichisch-italie­nischen Kooperation stehen; sie hatten gewissermaßen ihren Kern gebildet. Im Herbst befinden sich Panta- und Horus-Film vor dem Konkurs. Die hohe Verschuldung macht eine Fortsetzung ihrer Tätigkeit unmöglich, und die ausweglose Lage führt im No­vember 1936 zum tragischen Selbstmord Kraus‘. Gleichzeitig macht die Tobis-Sascha eine tiefe Umgestaltung durch, es kommt in ihrer Leitung zu tiefgreifenden Änderungen: Unter dem wachsenden Druck aus Berlin verlieren Pilzer und seine Brüder die Kontrolle über die Gesellschaft, und sie werden Anfang 1937 gezwungen, ihren Anteil zu ver­kaufen. Nach ihrer Ausscheidung gerät die Tobis-Sascha unter deutsche Kontrolle, und die neue Lage wirkt sich negativ auf die Zusammenarbeit zwischen Wien und Rom aus. Nun richtet man sich nach Berlin, und die Tobis-Sascha zeigt kein Interesse mehr an einer Koope­ration mit Italien.

Zur Stockung der Kooperation zwischen Wien und Rom nach Blumen aus Nizza trägt zugleich die allgemeine Krise bei, die Ende 1936 die österreichische Produktion erfährt. Sie ist zum einen auf den Boykott zurückzuführen, der in Berlin gegen den österreichischen Film betrieben wird. Auf filmpolitischer Ebene markiert der Zeitpunkt, so vermerkt Loacker, „die endgültige Kapitulation“ Österreichs vor dem NS-Re­gime.182 Zum anderen wird die Lage durch hohe Herstellungs-Kosten erschwert, und es kommt fast zu einem totalen Produktions-Stillstand. „Von Dezember 1936 bis Mai 1937“, resümieren Alfred Pfoser und Gerhard Renner, „standen die österreichischen Ateliers leer“.183 Die Presse meldet, dass mancher Produzent angesichts der Krise die Möglichkeit erwägt, im Ausland zu arbeiten, wobei im Besonderem Italien in Frage kommen soll. „Bedeutende Wiener Produzenten“, heißt es in Der Wiener Film, „[planen] ihre Tätigkeit zunächst für je einen Film nach dem Ausland und zwar nach Italien zu verlegen“,184 und Szekely erklärt in Bezug auf den neuen Film, Zauber der Boheme, an dem er Anfang 1937 arbeitet, und für den Eggerth und Kiepura engagiert werden: „Es ist durchaus möglich, dass ich den Film in […] Rom drehen werde“.185 Doch es bleibt bei einigen Erklärungen, ohne dass, soweit ersichtlich ist, die Absicht eine konkrete Form angenommen hätte.

Zu berücksichtigen ist auch die gesamte Entwicklung der österreichisch-italie­nischen Beziehungen zwischen 1936 und 1937: Ihre Verschlechterung mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Der italienische Angriff auf Äthiopien im Herbst 1935 hatte zu einem Bruch zwischen Rom, London und Paris geführt, und die internationale Isolierung, in der sich Italien eine Zeitlang befindet, hatte eine Annäherung an Berlin begünstigt. „[Man] begann, die italienisch-deutschen Beziehungen neu zu gestalten“, vermerkt Angelo Ara;186 und das neue Bündnis wirkt sich negativ auf die Kooperation zwischen Wien und Rom aus. Die Verständigung zwischen Italien und Deutschland, schreibt Emmerich Tálos, „veränderte die Situation für Österreich insofern, als Mussolini seine ‚schützende Hand‘ zurückzog“,187 und willigt das faschistische Regime auch einer Annexion Österreichs an das Deutsche Reich nicht ein, so widersetzt man sich nicht weiter einer Unterwerfung Wiens gegenüber Berlin. Die Römer Protokolle werden stufenweise gekündigt, wobei „[ihr] Funktionsverlust“, wie Karl Stuhlpfarrer anmerkt, „weitgehend mit der italienischen Annäherung an Deutschland konform [geht]“;188 und der neue Kontext bleibt nicht folgenlos für die österreichisch-italienische Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Films.

Eineinhalb Jahre nach Lanskes Besuch in der italienischen Hauptstadt im Oktober 1935 kommt es im Frühjahr 1937 zu einer neuen Reise des Leiters des Amtes für Wirtschaftspropaganda nach Rom. Lanskes Besuch findet in der zweiten April-Hälfte statt, die Gelegenheit bietet die feierliche Eröffnung der neuen Cinecittà-Studios, und die Reise soll der österreichisch-italienischen Kooperation neuen Impuls verleihen. In Rom, heißt es in einem Schreiben des Ministeriums für Handel und Verkehr an das Bundeskanzleramt, soll Lanske „Verhandlungen über eine österreichisch-italienische Zusammenarbeit im Filmwesen – soweit diese produktions- und devisentechnische Fragen betrifft – [führen]“.189 Anfang Mai ist Lanske in Wien zurück, und er berichtet der Österreichischen Filmkonferenz, wie Der Wiener Film meldet, „über die Verhandlungen, die er gelegentlich der Eröffnung der römischen Filmstadt mit dem Generaldirektor des italienischen Filmwesens Gr. Uff. Freddi gepflogen hat“.190 Die Österreichische Filmkonferenz war Ende 1935 ins Leben gerufen worden, und sie fungiert als Beratungsorgan, das gemeinsam mit dem Ministerium für Handel und Verkehr über filmwirtschaftliche Affären entscheidet.

Im Frühjahr 1937 halten sich auch Szekely und Rabinowitsch in Rom auf. Szekelys Besuch ist Teil einer großen Reise durch Europa, die ihn auch, wie Der Wiener Film schreibt,191 nach Berlin, Paris und London führt, während Rabinowitsch anlässlich der Eröffnung der Cinecittà-Studios nach Rom kommt. Nach einem längeren Aufenthalt in Hollywood befindet sich der Produzent Anfang 1937 wieder in Europa, wo er beabsichtigt, so berichtet die Presse, „ein bis zwei Filme […] zu drehen“,192 und Rabinowitsch reist nach dem römischen Besuch nach Wien zurück. „Bei der Eröffnung der großen, neuen italienischen Ateliers traf er mit dem Ehepaar Kiepura-Eggerth zusammen“, heißt es in der Österreichische Film-Zeitung, und das Blatt kündigt Rabinowitschs Absicht an, einen Film in Gemeinschaft mit Italien zu produzieren, in dem auch Eggerth und Kiepura auftreten sollen. Es soll sich um „einen großen Sängerfilm“ handeln, und es wird geplant, den Film „in englischer, italienischer und eventuell auch deutscher Sprache“ zu drehen.193

Im Sommer 1937 macht die Meldung die Runde, dass Eggerth in Italien einen Film über die berühmte Opernsängerin Maria Malibran drehen wird. Das Projekt mag in Zusammenhang mit dem römischen Treffen zwischen dem Paar und Rabinowitsch stehen. “Diese Aufgabe würde ihr sehr gefallen”, erklärt Kiepura; “und wer von den heutigen Darstellerinnen wäre für solchen Film geeigneter als sie?”; doch das Vorhaben steht nicht fest: „Bis jetzt sind die Verhandlungen nicht abgeschlossen, im Gegensatz zu dem, was die Zeitungen schreiben”.194 Später heißt es in der Presse, Eggerth und Kiepura werden an einer Tosca-Verfilmung mitwirken; der Film soll zwischen Rom, Wien und Paris koproduziert werden, es werden eine italienische, deutsche und französische Version geplant.195 Neben Eggerth und Kiepura sollen im Film Edvige Feuillère, Luis Jouvet und der Italiener Fosco Giachetti mitwirken; „die Regie wird man Augusto Genina anvertrauen“.196

Ende 1937 ist auch von einem österreichisch-italienischen Gemeinschaftsfilm mit Lilian Harvey die Rede;197 das Projekt wird unter dem Titel Es lebe die Liebe angekündigt, es soll in Italien gedreht werden, und man plant eine deutsche und italienische Version. Es sollen ihn gemeinsam mit der Astra Film der Berliner Produzent Serge Otzoup und Franz Tanzler herstellen. Letzterer soll schon bei Die weiße Frau des Maharadscha mitgewirkt haben: In Cinegiornale wird der österreichische Autor für das Buch verantwortlich genannt,198 und er agiert laut Alessandrini als Regie-Assistent.199 Im gleichen Jahr schreibt Tanzler den Film Blutsbrüder, und er ist nach dem Krieg eine Zeitlang in Frankreich tätig, bevor er Mitte der 1950er Jahre nach Deutschland zurückkehrt.

Anfang 1938 nimmt das Projekt Form an. Für das Drehbuch wird der öster­reichische Schriftsteller Franz Karl Franchy engagiert. Anfang der 1920er Jahre macht dieser mit einigen Dramenauf sich aufmerksam, und großen Erfolg haben Mitte der 1930er Jahre seine Stücken Einbruch der Wirklichkeit und Summa cum laude. Um den Film zu schreiben, soll Franchy nach Capri reisen, wo der Film zum Teil gedreht werden soll.200 Als Titel wird Il piccolo segreto di Capri angegeben, Regie soll Genina füh­ren.201 Danach erfährt das Vorhaben eine längere Unterbrechung. Nach der Annexion Österreichs an Deutschland scheidet Tanzler aus, die Astra Film übernimmt Harveys Vertrag und stellt den Film in Gemeinschaft mit der UFA her.202Im Juli 1938 wird das Projekt in Cinegiornale unter dem Titel Tre giorni in paradiso kurz erwähnt,203 doch der Film wird erst Ende 1938 gedreht; der deutsche Titel lautet Ins blaue Leben, der ita­lienische Castelli in aria.

Der letzte Film, an dem Ende 1937 zwischen Wien und Rom zu arbeiten begonnen wird, bevor der „Anschluss“ es unmöglich macht, das Projekt zu verwirklichen, lautet Karneval in Rom. Der österreichische Produzent Oscar Glück plant den Film, an dem abermals Eggerth und Kiepura mitwirken sollen, in Gemeinschaft mit der Astra Film herzustellen. Neben Szekely zählt Glück zu den bedeutendsten Produzenten des österreichischen Kinos der 1930er Jahre; 1926 hatte er in Wien die Projektograph-Film Oscar Glück gegründet, über die er in erster Zeit hauptsächlich als Verleiher tätig ist, bevor er Ende der 1920er Jahre in die Produktion einsteigt. Mit Eggerth und Kiepura schließt Glück im Herbst 1936 ein Abkommen über einige Filme ab; das Paar wird, so meldet Der Wiener Film, „für je einen Film“ verpflichtet.204 Das Projekt involviert auch Szekely, über den vermutlich die Vereinbarung zwischen Eggerth, Kiepura und Glück läuft, und der „in der Auswahl des Regisseurs, des Manuskripts und bei der Vorbereitung“ der Projektograph-Film zu Verfügung steht.205 Hierfür soll Szekely „eine Summe von S 15.000.-“ erhalten, wie auch „eine Menge von Positiv-Material, welche dem Kaufwert von RM 10.000.- entspricht“.206 Es wird auch die Möglichkeit ins Auge gefasst, eine italienische Version zu drehen. „Wenn wir von dem geplanten Film gleichzeitig mit der deutschen Fassung“, heißt es in einem Schreiben der Projektograph-Film an den Tenor, „[eine] italienische Version herstellen, so übernehmen Sie die Hauptrolle in beiden Fassungen“.207

Mit der Arbeit an Karneval der Liebe wird im Herbst 1937 nach der Herstellung des Eggerth-Films Immer, wenn ich glücklich bin begonnen. Mitte Dezember kommt es zum Abkommen zwischen der Astra und der Projektograph-Film. Letztere erklärt sich bereit, „das ganze Produktionsrisiko“ zu tragen, wobei der Gewinn entsprechend aufgeteilt werden soll: „Am Reingewinn ist Astra Film mit 1/3 und Projektograph-Film mit 2/3 beteiligt“.208 Der Film soll in Italien gedreht werden, und die Astra Film schlägt vor, ein Konsortium zu bilden, das nach Karneval in Rom weitere Filme produzieren soll; das Konsortium „sollte sich unserer Meinung nach nicht nur auf die Herstellung eines Films beschränken“, schreibt die Astra Film, „sondern auch die Produktion, immer in Rom, von jährlich zwei großen Filmen umfassen“.209 Das Projekt genießt Freddis Unterstützung: „Wir haben über dieses Projekt der Direzione Generale per la Cinematografia Mitteilung gemacht, und wir freuen uns Sie zu informieren, dass es mit großer Zustimmung aufgenommen worden ist“,210 und Karneval in Rom soll zusammen mit der Berliner Terra-Film hergestellt werden.211

Im Februar 1938 befindet sich der Film in Vorberei­tung,212 und Glück errichtet in Rom die Projektograph Italiana zusammen mit dem Italiener Antonio Mosco,213 über den auch die Minerva Film eingebunden wird, bei der Letzterer als Ge­schäftsführer agiert. Ihr wird die Auswertung des Films in Italien übertragen,214 und über die Minerva Film läuft auch der Kontakt zu Genina, der Karneval in Rom inszenieren soll. Anfang März informiert man Glück, Genina habe „einen großartigen Stoff entworfen“ und „[möchte] sich mit Ihnen treffen, um eine Entscheidung zu fassen“.215 Es werden die Ateliers gebucht, und man fordert Glücks Anwe­senheit in Rom, um den Film zu beginnen: „In Bezug auf die Angelegenheit Genina wie auch um den Vertrag für die Ateliers zu unterschreiben ist Ihre Anwesenheit in Rom kommende Woche erforderlich“.216 Das Schreiben datiert vom 11. März 1938. Zwei Tage später findet Österreichs Annexion an das Deutsche Reich statt.